Ein tiefer gehender Einblick: 210.000 Kinder lebten Im Jahr 2021 nicht mit ihren biologischen Eltern zusammen. Davon waren im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe 122 700 junge Menschen längerfristig oder vorübergehend in einem Heim und rund 87 300 in einer Pflegefamilie untergebracht. Kinder, die untergebracht werden, haben in ihrem kurzen Leben schon viel erlebt und mitgemacht. Oftmals haben sie mehr...
Der ‚Rucksack‘, den diese Kinder mitbekommen zum Anfang ihrer Reise durchs Leben, ist somit schon sehr schwer. Dazu treten die Kinder ihre Reise meist ziemlich allein an, in einem Alter, wo sie eigentlich auf ihre Mitmenschen und Erwachsene angewiesen sind. Ohne Hilfe wären die Kleinen nicht lange lebensfähig.
Für ein Kind mit diesen Erfahrungen ist eine Pflegefamilie eine einzigartige Chance und macht einen ganz großen Unterschied. Pflegeeltern übernehmen die besondere Aufgabe, dem Pflegekind einen sicheren und verlässlichen Lebensort zu bieten und ihm bei der Verarbeitung seiner bisherigen Erfahrungen und Belastungen zu helfen. Studien zeigen, dass Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, die besten Entwicklungschancen haben, wenn sie in einer gut vorbereiteten und begleiteten Pflegefamilie aufwachsen können. Dies lässt sich mitunter an der grauen und weissen Gehirnsubstanz nachweisen. Bei Vernachlässigungen, wenig Aufmerksamkeit und Liebe sowie individuelle Förderung nimmt die graue und weisse Gehirnsubstanz ab. Dieser Prozess ist jedoch umkehrbar. Dieselben Kinder, die einen Rückgang der Gehirnmasse zeigten und in eine Pflegefamilie kamen, bildeten nach einigen Jahren die Gehirnsubstanz völlig zurück. Erwachsene Menschen ebenso wie Kinder brauchen ein Zugehörigkeitsgefühl. Menschheitsgeschichtlich waren Menschen ohne soziale Gruppe weniger überlebensfähig. Ein Wir-Gefühl stärkt das Wohlbefinden und auch die Leistungsfähigkeit. Studien haben nachgewiesen, dass Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, eine geringere Gehirnkapazität um 27% zeigen und weniger leistungsfähig sind.
Aber was genau sind die besonderen Fähigkeiten der Pflegefamilien, die ein Kind gedeihen und wachsen lassen, trotz seiner vielfältigen Einschränkungen und seelischen Wunden?
Das Allerwesentlichste ist, dass jedes Kind seine ganz individuelle Geschichte mitbringt und eben deshalb einen ganz individuellen Zugang und Unterstützung braucht. Wo sollte dies besser gelingen, als in einer liebevollen Familie, die ganz individuell auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen kann und will? Die das Kind ganz individuell fördert und unterstützt. In der das Kind Zugehörigkeit und Verbundenheit erleben kann, Vertrauen schrittweise erfahren kann, sich entfalten darf mit seinen Talenten, seinem Wesen und Charakter. Kinder brauchen einen strukturierten Tagesablauf, der ihnen Halt gibt und liebevolle Rituale – alles Dinge, die diese Kinder meist nicht erfahren haben und ihnen noch fremd sind und noch lernen müssen. Sie brauchen Förderung und das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Dies kann nur wirklich gelingen, wenn ein Kind sich verstanden und gesehen fühlt von seinen Mitmenschen, dass es sich Trost holen kann, wenn es verzweifelt ist, dass sein Gegenüber versteht, wann das Kind verzweifelt ist, auch wenn das Kind das gerade nicht gut zeigen kann, sondern vielleicht einen Tobsuchtsanfall hinlegt. Das Kind braucht ein Gegenüber, das ihm zeigt, wie man lernt, seine Gefühle zu erkennen und so auszudrücken, dass andere Menschen gerne auf das Kind zugehen wollen, um es zu trösten und zu verstehen. Das Kind lernt an seinem unmittelbaren Vorbild, wie man sich selber regulieren lernt – und das gelingt am Besten, wenn man sein Vorbild lieb hat und es wertschätzt.
Im Rahmen einer Pflegefamilie kann das Kind durch die Zugehörigkeit und Verbundenheit, der individuellen Aufmerksamkeit, dem Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit sich erfahren und darauf vertrauen, dass die Familie für es da ist in allen Lebenslagen, mit ihm durch dick und dünn geht. In diesem Umfeld, dass Sicherheit und Liebe reflektiert, ist ein jeder Mensch hoch motiviert, sich zu entwickeln und die Beziehung zu den anderen liebevoll mitzugestalten. In einem solchen Umfeld gelingt es dem Kind, große Fortschritte zu machen in allen Bereichen. Und wenn diese Fortschritte im Rahmen einer liebevollen Familie gespiegelt und reflektiert werden, erfährt ein Kind Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen. In einer solchen Atmosphäre kann es neue Beziehungserfahrungen machen und langsam heilen.
Und die wirklichen Fortschritte können nur in Anbetracht der Größe des ‚Rucksacks‘ gemessen werden. Desto größer und schwerer das Paket, desto länger braucht es. Manchmal sind die Entwicklungsverzögerungen der Kinder gravierend, die seelischen, psychischen und körperlichen Defizite sehr schwerwiegend und enorm. Und genau an dieser Stelle sind die Fachkräfte gefragt. Welche Hilfen und zusätzliche Unterstützung braucht das Kind und ebenso die Pflegefamilie, um dem Kind die bestmöglichen Entwicklungsbedingungen geben zu können? Manche Aufgaben sind so groß, schwer und komplex, dass es zusätzliche Unterstützung braucht. Und auch diese zusätzliche Unterstützung sollte immer ganz individuell abgestimmt werden, so dass es für das Kind ebenso wie für die Pflegefamilie passt.
Und was bedeutet es, so ein Kind in sein Leben zu lassen, es wirklich in sein Herz zu lassen und es so zu lieben, wie es eben ist? Es anzunehmen mit all seinen Besonderheiten, es auszuhalten mit seiner Angst, Unsicherheit, Trauer und Wut?
Eine Pflegefamilie betreut ein Kind Tag und Nacht, rund um die Uhr, jeden Tag, das ganze Jahr über. Mit all seinen seelischen, psychischen und körperlichen Narben, die sich eventuell in Wutausbrüchen zeigen, Unruhe, Grenztestungen, Ängsten, psychosomatischen Symptomen, usw. Es gibt keine Ferien, keine Auszeit. Es gibt das Miteinander, auch das miteinander Wachsen, und für das Kind ist die Pflegefamilie oftmals faktisch die einzige Familie, die einzigen verlässlichen Bezugspersonen, die es hat. Einen Platz und ein Zuhause für ein Kind zu finden, die seinen Bedarfen gerecht werden, wie das alles in einer Pflegefamilie möglich ist, ist alles andere als einfach aufzutun.
Pflegefamilien leisten unheimlich viel und sind unersetzlich. Sie verdienen eine hohe Anerkennung und Wertschätzung und ebenso ein Verständnis dafür, dass die Aufgabe, die sie übernommen haben, nämlich ein möglicherweise schwer vorbelastetes Kind großzuziehen, eine sehr komplexe und sehr anspruchsvolle Aufgabe ist.
Darum brauchen Pflegefamilien unsere volle Unterstützung, Verständnis und Zuspruch. Sie brauchen Mut machende Worte und keine Verurteilung. Sie brauchen kreative individuelle Erziehungstipps, weil gewöhnliche Maßnahmen oftmals nicht greifen. Und vor allem brauchen sie selbstverständliche Unterstützung, Entlastung und Auszeiten, um wieder Kraft zu tanken für den Alltag. Und vor allen Dingen brauchen sie auch die notwendigen finanziellen Mittel und Anerkennung des Geleisteten auf die Rente. Pflegefamilien leisten einen ganz wertvollen Beitrag für das aufgenommene Kind ebenso wie für die Gesellschaft. Hierfür wollen wir den Pflegefamilien immer und zu jeder Gelegenheit einen ganz großen Dank aussprechen! Und wir setzen uns aktiv ein für die dringende Verbesserung der Rahmenbedingungen von Pflegefamilien.
Oktober 2023 / L. v. Steenacker